Das Ende der E-Mail: ein Verbrechen ohne Leiche

Der Tod der E-Mail wurde in den letzten Jahren dutzendfach verkündet. Aber wer will sie tot sehen? Und warum? BlueMind führt die Untersuchung an

Die verhängnisvolle Neuigkeit wurde in einer Studie von Slack verkündet, über die das Magazin IT for Business  berichtete: Stimmt einen Trauermarsch an und vergesst die Taschentücher nicht, die E-Mail ist tot.

Laut der von Slack befragten CIO wird E-Mail innerhalb der nächsten drei Jahren in den Unternehmen durch Instant Messaging ersetzt werden. Und wie es der Zufall so will, wird genau dieses Produkt von Slack angeboten.

Man wird sich keine asynchronen Nachrichten mehr schicken, die man auf verschiedene Ordner verteilen und aufbewahren kann. Im Jahr 2024 werden Sie Ihre Diskussionen über das wichtigste Projekt des Jahres anhand mehrerer tausend Scrolls zwischen den „lol“ und den Smileys aus dem Gesprächsverlauf in einem Chat wiederherstellen. Außerdem wird es künftig einfach sein, Ihren Gesprächspartnern zu schreiben, nachdem Sie sie gefragt haben, auf welcher Slack-Plattform sie sind, wie man dort hinkommt und wie man sie dort erreichen kann … Per E-Mail? … Ach nein, die gibt es ja nicht mehr!

Es ist nicht das erste Mal, dass E-Mail totgesagt wird. Sie erinnern sich vielleicht an die aufsehenerregenden Ankündigungen von ATOS aus dem Jahr 2012 und seine Akquisitionen mit dem Ziel, E-Mail-Nachrichten in Unternehmen abzuschaffen, um sie durch … hmm, was war das doch gleich? … zu ersetzen. Die aktuelle Prophezeiung folgt auf mehrere, mehr oder weniger ernsthafte Ankündigungen aus den letzten 20 Jahren, dass E-Mail überholt, am Ende oder tot sei, die immer von den Anbietern einer Technologie stammten, „die kurz davorsteht, E-Mail zu ersetzen“.

Worauf begründen sich diese Prophezeiungen? Sind sie zuverlässig? Wer will der E-Mail an den Kragen und warum? Und wie sieht es denn in der Realität aus?

Die Verdächtigen

Vorhersagen über das Ende der E-Mail sind nichts Neues. Anwendungen wie WhatsApp sollten die E-Mail abschaffen. Die sozialen Netzwerke von Unternehmen sollten die E-Mail ersetzen. Die traditionellen sozialen Netzwerke sollten die E-Mail ersetzen. Die Instant Messaging Lösungen sollten (oder sollen) die E-Mail ersetzen, nur die Covid-19-Impfung sollte die E-Mail nicht beseitigen, sondern nur das Virus.

Festzuhalten ist, dass sich bis 2021 natürlich keine dieser Prophezeiungen bewahrheitet hat. Tatsache ist, dass es in der Praxis der beruflichen Kommunikation nur das persönliche Gespräch und in geringerem Maße das Telefon mit der E-Mail aufnehmen kann. Das zeigen beispielsweise die Ergebnisse der von Mitel France durchgeführten Umfrage über Produktivität bei der Arbeit und Kommunikationstechnologien „Enquête productivité au travail et technologies de communication“, die Ende 2019 in IT for Business veröffentlicht wurden:

Es ist realistisch anzunehmen, dass die Auswirkungen der Gesundheitskrise das Medium „Video“ jetzt auf das Niveau von Chat/Instant Messaging anheben könnten, aber immer noch in einer Größenordnung weit unter der E-Mail.

Es gibt kein Unternehmen ohne E-Mail, nicht einmal die, die sich mit Inbox Zero brüsten, kommen ohne E-Mail aus. Atos war beispielsweise lange Zeit die Leitfigur der Zero-Email-Politik und weckte das Interesse der Fachmedien. Mehrere Artikel, die am Ende des Projekts erschienen sind (Oettl et al (2018), HBR (2015) usw.), kamen jedoch zu dem Schluss, dass der fromme Wunsch nicht wirklich realisierbar ist. Man kann zwar den internen E-Mail-Verkehr reduzieren, indem man andere Lösungen verwendet, aber die Mitarbeiter erhalten weiterhin in einem konstanten Rhythmus externe E-Mail und müssen mit den verschiedenen Tools jonglieren.

Jede neue Kommunikationstechnologie scheint der guten alten E-Mail den Garaus machen zu müssen, ohne dass es jemals gelingt. Aber warum scheinen alle zu wollen, dass E-Mail ausstirbt?

Das Motiv

Machen wir uns nichts vor, die E-Mail ist daran nicht ganz unschuldig. Sie hat sich sogar einiges zuschulden kommen lassen. 55 % bis 95 % der weltweit ausgetauschten E-Mail-Nachrichten sind Spams! Dadurch entsteht, wie wir bereits in einem anderen Artikel aufgezeigt haben, eine beträchtliche Umweltbelastung, umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Menge der weltweit ausgetauschten E-Mail-Nachrichten jährlich um circa 4,5 % steigt. Neben der Umwelt werden auch die Mitarbeiter belastet. Der konstante Zustrom unnötiger E-Mail-Nachrichten tötet ihre Produktivität (übrigens ganz wie der konstante Zustrom von Chat-Benachrichtigungen).

Aber beim genaueren Hinsehen stellt man fest, dass es die schlechte Verwendung der E-Mail ist, die Probleme bereitet. Die eigentlichen Vorwürfe beziehen sich auf die Verbreitung von Spam, die Nutzung der E-Mail als DMS, auf den Versand an Adressaten, die bestimmte E-Mail-Nachrichten gar nicht brauchen, die Übertragung großer Dateien als Anlage zu einer E-Mail-Nachricht, statt des Versands eines Links zu einem Dateiserver, wie es von BlueMind vorgeschlagen wird …

Zu Neujahr 2021 haben wir einen Artikel mit guten Vorsätzen für eine E-Mail-Verwendung verfasst, um diese Ärgernisse soweit möglich zu vermeiden. Ein Training in der richtigen Verwendung von E-Mail könnte die negativen Auswirkungen bereits deutlich reduzieren. Im Übrigen kann man sich fragen, was in einer Welt ohne E-Mail die neuen Tools vor vergleichbaren Abwegen schützen wird?

Zu beachten ist auch, dass E-Mail mit über 4,1 Milliarden E-Mail-Konten weltweit im Jahr 2021 eine große Versuchung für Cyberkriminelle jeder Couleur darstellt. Berufliche Mailkonten sind eine Zugangstür zur gesamten Bevölkerung und zu Unternehmensdaten (Verträge, Rechnungen, vertrauliche Informationen usw.) und damit eine beliebte Zielscheibe für immer raffiniertere Cyberattacken

Dabei gilt im Internet wie anderswo: Gelegenheit macht Diebe. Gerade weil E-Mail die am häufigsten verwendete Anwendung ist und die wichtigste Zugangstür zu einer Organisation darstellt, ist sie das Ziel von Attacken. Und weil M365 eine der am weitesten verbreiteten Lösungen in Unternehmen ist, ist sie auch eine besonders beliebte Zielscheibe. Wenn es keine E-Mail mehr gäbe, würden Cyberattacken auf E-Mail ebenfalls zurückgehen … um sich dem neuen Lieblingskommunikationskanal zuzuwenden: den sozialen Netzen in Unternehmen, den Instant Messaging-Lösungen usw.

Der Tatort

E-Mail ist in unserem beruflichen Alltag so stark verankert, dass wir häufig vergessen, welchen zentralen Platz sie dort einnimmt. Das macht es einfacher, sich vorzustellen, dass sie aussterben könnte. Und doch, damit wir uns bei all den Anwendungen, die ihr ein Ende machen wollten, anmelden können, brauchen wir … eine E-Mail-Adresse! Sie ist die Basis-ID Ihres gesamten digitalen Lebens sowohl im beruflichen als auch im privaten Umfeld. Alle haben eine E-Mail-Adresse, aber nicht alle haben ein Konto in den sozialen Netzwerken oder Chat-Apps … deren unterschiedliche Bereiche übrigens voneinander abgetrennt sind.

Außerdem ist die Kompatibilität zwischen diesen Plattformen in deren Roadmaps nicht vorgesehen (und wird es wahrscheinlich auch nie sein). Der Versand einer Direct Message auf Twitter löst keine Benachrichtigung auf Facebook oder Slack aus. Aber alle senden E-Mal-Benachrichtigungen.

Das Mailsystem dient auch als Gedächtnisstütze. Hier erhalten Sie Ihre Einladungen zu Veranstaltungen, Ihre Termine, Links für die Wiederherstellung von Passwörtern sowie Benachrichtigungen (sogar aus anderen Anwendungen wie Chats oder sozialen Netzwerken). Und da E-Mail multiplattform-, multigeräte- also „multialles“-fähig ist, erhalten Sie sie auf Ihrem großen PC im Büro in Berlin und auf Ihrer vernetzten Armbanduhr im Urlaub in Tulum. Alles, was Sie für ihren Zugang und für ihre komplette Nutzung benötigen, ist eine Internet-Verbindung.

Ihre E-Mail-Adresse steht natürlich auch auf Ihrer Visitenkarte, denn diese Information ist für Ihre Kontakte genauso wichtig wie Ihr Name, der Name Ihrer Firma oder Ihre Telefonnummer. Anzugeben, wie man Sie in einem sozialen Netzwerk, einer Chat- oder Video-App findet, ist auch sehr gut … aber nur, wenn Ihre Kontakte dort ebenfalls präsent sind. E-Mail ist universell und weder von einer einzigen Plattform noch von einem einzigen Anbieter abhängig.

Und das i-Tüpfelchen ist ihre Bedeutung im juristischen Bereich: Was in einer E-Mail steht, ist rechtsgültig. Bei anderen Anwendungen ist das noch nicht der Fall, wobei sich die Rechtsprechung natürlich weiterentwickeln kann.

Das Ende der E-Mail vorherzusagen, heißt davon auszugehen, dass ihre Nutzung in den genannten Anwendungsbereichen innerhalb einiger Jahre zugunsten neuer Werkzeuge verschwinden könnte, von denen derzeit keines die gleichen Vorteile auf sich vereint.

Das Ergebnis der Ermittlungen

Sie haben uns sicher verstanden, das Ende der E-Mail zu prophezeien, findet BlueMind ebenso glaubwürdig, wie anzukündigen, dass in Zukunft statt Wasser nur noch Cola getrunken wird.

Man versucht, das „Alter“ der E-Mail dafür zu benutzen, eine neuere „innovative“ oder „bahnbrechende“ Lösung mit allen passenden Buzzwords positiv davon abzuheben, um zu kaschieren, dass eine klare Begründung fehlt.

Dabei werden die Kernpunkte vergessen, die E-Mail einzigartig und allgegenwärtig machen: Sie ist ein einmaliger und universeller Standard, mit allem kompatibel, überall vorhanden, von jedem leicht zu verwenden und dezentral (d. h. nicht dem Willen, den Regeln und vor allem den Risiken einer einzigen Organisation unterworfen, die ihr Eigentümer ist).

Außerdem wird E-Mail auch von ALLEN anderen Lösungen, einschließlich derjenigen, die sie totsagen wollten, zur Übertragung von Informationen und Benachrichtigungen verwendet.

E-Mail ist heute neben dem direkten Gespräch und dem Telefon einer der 3 universellen Pfeiler der Kommunikation und bei weitem und mit wachsender Bedeutung das wichtigste externe Kommunikationsmittel.

Wie jedes generalisierte Mittel ist E-Mail nicht strukturiert und sollte daher nicht über seinen Anwendungsbereich hinaus verwendet werden. Sie kann (und muss) durch gezieltere Mittel und Werkzeuge (oder Sparten) ergänzt werden, um auf einen spezifischen Bedarf zu antworten: thematische oder Gruppen-Diskussionen und Live-Sharing, Verwaltung und Freigabe von Wissen, Projekten, Support usw.

Es geht nicht darum, E-Mail zu ersetzen, das wäre das falsche Ziel und obendrein umsonst, sondern darum, wie man sie richtig einsetzt und mit Management-Tools für den gezielteren Bedarf verbindet und ergänzt.

Es ist daher nicht gerade scharfsinnig, das Ende eines unverwüstlichen Unschuldigen anzukündigen, der Sie obendrein ernährt!

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Leslie Saladin

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