Was uns die Übernahme von Twitter über Europas Digitalisierung lehrt

Was wäre, wenn Elon Musks Irrungen und Wirrungen bei der Übernahme von Twitter uns Europäern viel über unsere Digitalisierung lehren könnten?

Sicher ist Ihnen nicht entgangen, dass Elon Musk Twitter gekauft hat – nach zahlreichen Irrungen und Wirrungen. Die Nutzerinnen und Nutzer auf Twitter und die digitale Welt im Allgemeinen kommentieren seither unaufhörlich – und ziemlich fassungslos – das Chaos, das der amerikanische Multimilliardär verursacht: Massenentlassungen, kostenpflichtige Zertifizierung, Abwanderung von Werbekunden und so weiter. Hin und hergerissen zwischen Bestürzung und Faszination verfolgt die Welt ein Schauspiel, das immer mehr dem Drehbuch einer Netflix-Serie ähnelt, deren Ende niemand erahnen kann. Das soziale Netzwerk mit dem blauen Vogel sorgt derzeit permanent für neue, schwer fassbare Schlagzeilen.

Aber das ist nicht das, was uns in diesem Artikel interessiert. Vielmehr möchten wir den Fokus anders ausrichten: Wir wollen darüber sprechen, was dieses Ereignis uns Europäerinnen und Europäern über die Digitalisierung zu sagen hat.

Viel Macht, wenig Verantwortung

Twitter ist nicht nur ein beliebiges soziales Netzwerk, sondern ein wichtiges Sprachrohr. Zum Beispiel für die Politik: Trump hatte Twitter zu seiner Hochburg gemacht, bevor er von der Plattform verbannt wurde – und der Tod von Queen Elizabeth II wurde zuerst auf Twitter bekannt gegeben. Für die Wirtschaft: Ein schlechter Tweet kann Millionen an der Börse kosten, das lässt sich an vielen Beispielen beobachten. Und für die Gesellschaft: Im Bauch von Twitter wurde die #MeToo-Bewegung geboren, und es war ebenfalls Twitter, das den Hashtags „Je suis Charlie“ oder „Black Lives Matter“ Nachdruck verlieh.

Der zertifizierte gefälschte Tweet:

Die direkte Folge:

Twitter ist also viel mehr als eine einfache Microblogging-Website. Es ist eine mächtige Echokammer für Politik, Gesellschaft und Soziales. Die Übernahme durch Elon Musk bedeutet, dass all diese Macht in den Händen einer einzigen Person liegt und deren Vision dient. Diese Person ist ein in den USA ansässiger Multimilliardär, der sich selbst als „Absolutist der Meinungsfreiheit“ bezeichnet – die übrigens endet, wenn man ihm widerspricht oder sich über ihn lustig macht – und aus seiner politischen Haltung keinen Hehl macht.

Ob man Musks Ansichten teilt oder nicht, ist nicht die Frage. Das Problem liegt darin, dass große Macht in den Händen einer einzigen Person liegt, eines Mannes, der offen über seine Ansichten spricht und die Macht von Twitter nutzen möchte, um diese durchzusetzen – unter dem Deckmantel der totalen Meinungsfreiheit.

Letztendlich ist die Übernahme von Twitter eine Allegorie für das, was sich als die „amerikanische Kolonialisierung des europäischen Digitalwesens“ bezeichnen lässt. Fremde Mächte, zyklopische Gebilde, zwingen anderen mit Milliarden von Dollar ihre Sicht der Welt auf: konzentrierte Macht, brutale Praktiken, ein ultraliberales Modell.

Die Übernahme von Twitter lehrt uns, wie schädlich die Konzentration von Macht ist. Die europäische Digitalbranche sollte nicht länger irgendwelchen Träumen nachjagen. Stattdessen sollte sie in Ökosystemen denken, um für eine Vielfalt an Lösungen zu sorgen.

Digitale Souveränität ist die Macht, Nein zu sagen

Souveränität bedeutet, ohne Druck oder Zwang wählen und handeln zu können. Aber im Fall Twitter kauft sich ein Multimilliardär das einflussreichste soziale Netzwerk der Welt und nutzt es dazu, eine amerikanisch-libertäre Weltsicht durchzusetzen: „Free Speech“ – alle Meinungen sind gleichwertig, alles darf gesagt werden.

Der Free-Speech-Absolutismus bedeutet auch, dass es keine Regulierung in Bezug auf Hassrede gibt. Das verstößt jedoch gegen das französische Gesetz, das streng eingrenzt, was man im öffentlichen Raum sagen darf und was nicht.

Wir haben es also mit einem Konflikt zwischen verschiedenen Gesetzen zu tun. Auf der einen Seite beruft sich Twitter auf US-amerikanisches Recht, das keine Regulierung der öffentlichen Rede zulässt. Auf der anderen Seite stehen die Nationen, in denen diese Rede eingegrenzt wird. Thierry Breton, der EU-Kommissar für den Binnenmarkt, beeilte sich, Musk darauf hinzuweisen, dass Twitter sich in Europa an die lokalen Gesetze halten müsse.

Kaum jemand konnte übersehen, dass die sozialen Plattformen schon vor Musks Ankunft schwer zu regulieren waren. Jetzt ist dringend zu klären: Wie kann man in einem so großen und beweglichen Raum wie dem Internet milliardenschweren Personen oder Einheiten, die es sich leisten können, Staaten zu bedrohen, Grenzen setzen?

Die Übernahme von Twitter zeigt uns etwas sehr Wichtiges: Digitale Souveränität bedeutet, dass wir im digitalen Raum handlungs- und entscheidungsfähig sind. Aber ihre Folgen gehen weit über das Internet hinaus – sie sind politisch, rechtlich und gesellschaftlich. Unsere digitale Unabhängigkeit zu wahren, sollte eine Priorität für jeden und jede von uns sein.

Nutzer lassen sich von Alternativen motivieren

„Trends“ oder „Trending Topics“ sind die Themen bei Twitter, die in den Schlagzeilen des sozialen Netzwerks stehen. Sie ändern sich ständig, da die Nutzerinnen und Nutzer mithilfe von Hashtags selbst diese Trends setzen. Zu beobachten ist aktuell, dass nach jeder größeren Ankündigung von Elon Musk über Twitter der Trend „Mastodon“ im Netzwerk mit dem blauen Vogel explodierte.

  • 25. April 2022: Twitter akzeptiert den Übernahmevorschlag von Elon Musk für 44 Milliarden US-Dollar.
  • Im Mai 2022: Musk erklärt, dass er die Übernahme erst abschließen werde, wenn er den Beweis hat, dass nicht mehr als 5 Prozent der Accounts gefälscht sind. Außerdem erläutert er seine Vision für das Netzwerk, zum Beispiel: weniger Moderation, mehr Redefreiheit, Rückkehr gesperrter Accounts.
  • Ende Oktober 2022: Die Übernahme ist vollzogen, die Zeit der Entlassungen und des oben erwähnten Ausprobierens beginnt.

Warum also boomt Mastodon? Weil es eine Open-Source- und dezentrale Alternative zu Twitter ist. Der Nutzer oder die Nutzerin wählt bei der Anmeldung einen Server aus, der von einer Person oder Organisation betrieben wird. Auf diesem Server kann er oder sie interagieren, und dort werden auch die Daten gespeichert. 

Die Übernahme von Twitter zeigt, dass sich die Nutzer der Probleme bewusst sind, die vor allem US-amerikanische, aber auch chinesische Tech-Giganten mit sich bringen. Und dass sie ihre eigene Macht kennen und zu nutzen wissen: Wenn sie Twitter verlassen, sagen sie Nein zu einem Modell, das ihnen aufgezwungen wird. Die Nutzerinnen und Nutzer betrachten Open-Source-Lösungen als gesündere Alternativen zu den Auswüchsen der proprietären Giganten.

Open-Source-Alternativen, valide oder nicht?

Trotz der Migrationswelle glauben die Stammkunden von Mastodon jedoch nicht, dass sich der Trend fortsetzt oder dass ihr Tool Twitter eines Tages verdrängen könnte. Der Grund dafür: Mastodon ist zu kompliziert zu nutzen – ganz abgesehen von den Herausforderungen des technischen Modells. Hier sind einige Beispiele für Nachrichten, die in den letzten Wochen ironischerweise auf Twitter gepostet wurden:

Eine „Hölle“, ein „Gemetzel“, das zu viel „geistige Bandbreite“ (mental bandwidth) benötige. So oder so ähnlich bezeichnen Mastodon-Schiffbrüchige, die auf Twitter zurückkehren, die freie Alternative.

Hier haben wir es mit einer Wahrnehmung zu tun, die bei Open Source häufig vorkommt: Projekt und Produkt werden verwechselt. Wir bei BlueMind haben uns bereits mehrfach dazu geäußert.

Suchen Sie nicht nach dem Geschäftsmodell von Mastodon! Es gibt keines. Mastodon wurde 2016 von dem Deutschen Eugen Rochko ins Leben gerufen. Es funktioniert wie ein gemeinnütziger Verein, der sich durch Spenden finanziert. Mehr als 650 Programmierer haben auf freiwilliger Basis ihren Baustein zum Quellcode beigesteuert.

Mastodon ist ein Open-Source-Projekt, kein Produkt. Es hat weder Governance noch eine Roadmap oder ein UX-Team, das sich darum kümmern könnte, die Nutzererfahrung global zu definieren, um sie angenehm zu gestalten.

Die Übernahme von Twitter zeigt, dass Nutzerinnen und Nutzer eine angenehme, verständliche oder anderswie gleichwertige Erfahrung erwarten, wenn sie sich für eine Alternative entscheiden sollen. Europäisch zu sein reicht nicht aus. Open Source zu sein reicht nicht aus.

Ganz einfach: Ein Nutzer möchte Ihnen auf einer Plattform folgen. Er teilt Ihre Werte, wird aber keine Zugeständnisse an die Qualität seiner Erfahrung machen. Niemand wird sein Auto durch einen Karren ersetzen, der zwar umweltfreundlicheres, aber längeres und weniger komfortables Fahren bietet. Genauso wenig wird sich Twitter durch ein Open-Source-Projekt ersetzen lassen, das sich nicht mit höchster Priorität um die Nutzererfahrung kümmert.

Keine Angst vor Softwareherstellern

Qualitativ hochwertige, zukunftssichere Software für Anwender zu entwickeln, ist ein Beruf: Softwarehersteller. Softwarehersteller zu sein bedeutet, sich zu 100 Prozent auf die Lösung zu konzentrieren: das Produkt und alle Tools beziehungsweise Ressourcen, die es bereichern. Dazu gehören unter anderem Migrationstools, verschiedene Dokumentationen – technische, funktionale oder kommerzielle – und das Ökosystem, vor allem Integrations- und Technologiepartner. Wir bei Bluemind bringen eine globale und dauerhafte Vision und Governance mit, um die Kohärenz der Lösung zu gewährleisten.

Nutzerinnen und Nutzer erwarten genau dieses Qualitätsniveau. Es erlaubt uns bei Bluemind, eine souveräne und glaubwürdige Alternative für kollaboratives Messaging anzubieten – und zwar eine, die Kunden und Nutzer akzeptieren.

Die Übernahme von Twitter sollte uns bewusst machen, dass wir in Europa über Kompetenzen, Unternehmen und Ökosysteme verfügen, die erfolgreich sind – trotz Gleichgültigkeit und geringer Unterstützung durch die Staaten. In Frankreich etwa proklamiert die Regierung Souveränität. Sie gibt vor, das Thema sei strategisch wichtig, handelt aber oft völlig widersprüchlich. Prominentes Beispiel ist das Modell der „vertrauenswürdigen Cloud“ (Cloud de Confiance), das Organisationen dazu ermutigt, US-amerikanische Lösungen zu wählen. Andererseits basteln öffentliche Stellen eigene, nicht hoheitliche Lösungen, obwohl es auf dem lokalen Markt bereits vorgefertigte Angebote gibt.

Wir Softwarehersteller sind da. Unsere Lösungen sind verfügbar, auch als Open Source, wie die letzte Umfrage des CNLL belegt. Es bleibt nur, den schönen Reden Taten folgen zu lassen und sich für eine oder mehrere der Lösungen zu entscheiden … bevor ein Multimilliardär, der hier vorbeikommt, sich die „Start-up-Nation“ Frankreich oder einen größeren Teil Europas kauft.

Leslie Saladin

Leslie Saladin

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