„Europa und die digitale Souveränität: eine Hassliebe“ 

Digitale Souveränität bedeutet, frei entscheiden und handeln zu können, ohne Druck ausgesetzt zu sein oder etwas hinnehmen zu müssen.  

Ein Leitartikel, verfasst von Pierre Baudracco, Geschäftsführer von BlueMind, Europas führender Anbieter von kollaborativen Messaging-Lösungen

Digitale Souveränität besteht nicht darin, blindlings allem den Vorzug zu geben, was den Stempel „Made in Europe“ trägt. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung sind die GAFAM nicht etwa deshalb problematisch, weil sie aus den USA stammen, sondern weil sie zu viel Macht haben und diese Macht nutzen, um anderen ihre Regeln, Bedingungen und Gesetze aufzuzwingen. Digitale Souveränität – oder Unabhängigkeit – bedeutet also, frei entscheiden und handeln zu können, ohne Druck ausgesetzt zu sein oder etwas hinnehmen zu müssen.  

Auf Worte Taten folgen lassen

Regierungen und große Organisationen in Europa predigen digitale Souveränität, werden aber nicht müde, das Fehlen an lokalen Lösungen für ihre Umsetzung zu beklagen. Diese gewaltige Lüge ist das Ergebnis einer Form von geistiger Bequemlichkeit, aber auch (oder vor allem) einer intensiven Lobbyarbeit der Branchenriesen, die über nahezu unbegrenzte Mittel verfügen.

Zu behaupten, in Europa gebe es keine souveränen Alternativen, ist schlichtweg falsch. Vielmehr resultiert diese Situation aus einer Reihe kurzfristiger Entscheidungen, gepaart mit einem Gefühl von Ohnmacht oder Unabwendbarkeit, auf dem sich die IT-Entscheidungsträger sowohl in den EU-Staaten als auch in den großen Unternehmen gerne ausruhen.

Um die Frage der digitalen Souveränität fundiert angehen zu können, brauchen wir eine echte Industriestrategie, keinen Flickenteppich an Ausbesserungen, der die heutige Situation nur in die Länge zieht und den Anschein von Souveränität erweckt.

Der Hersteller von Open-Source-Software: eher die Lösung, nicht das Problem

Obgleich 90 % der Open-Source-Software von Softwarefirmen entwickelt werden, leidet der Berufsstand des Herstellers von Open-Source-Software unter mangelnder Anerkennung und wird aus ideologischen Gründen – sogar von den Fundamentalisten der freien Software – noch viel zu häufig kleingeredet.

Ein potenzieller Kunde nimmt Open Source oft nur als eine Möglichkeit wahr, Geld zu sparen, indem er sich von den Anbietern proprietärer Software löst, von denen er sich geknebelt fühlt. Auf der anderen Seite stehen Regierungen und verschiedene, etwas zu dogmatisch ausgerichtete Open Source-Verfechter, die sie zwar vorantreiben, aber häufig auf ihre eigenen Vorhaben beschränken. Mit dem Argument, Open Source sei lediglich ein Service, versteifen sie sich nicht selten darauf, selbst dann ihre eigenen Lösungen entwickeln oder basteln zu wollen, wenn es sich um nicht-hoheitliche oder unspezifische Bereiche handelt.
Nichts davon funktioniert! Und alle beklagen sich, dass es an glaubwürdigen Open-Source-Alternativen fehlt.

Ein häufiger Fehler besteht darin, die legitime Abneigung, die den großen Software-Firmen und ihrem monopolistischen oder gar unverschämten Verhalten entgegengebracht wird, auf alle Software-Anbieter zu übertragen, die nur noch als kommerzielle Parasiten betrachtet werden.

Dabei ist es eigentlich ganz einfach. Für die Entwicklung einer hochwertigen Lösung, die auf Langfristigkeit ausgelegt ist und den technischen, funktionalen und ökosystembezogenen Anforderungen entspricht, gibt es… den Softwarehersteller.

Eine Lösung ist kein Quellcode

Eine Lösung wird nicht beruhend auf Dienstleistungen oder Support entwickelt. Das Ergebnis ist immer das gleiche! Im Umkehrschluss bedeutet dies auch, dass der Beitrag des Softwareherstellers in Frage gestellt wird und scheinbar nicht klar ist, was ein Lösungsanbieter eigentlich macht, nachdem die Entwicklung neuer Funktionen nur einen Bruchteil der Gesamtarbeit ausmacht.

Das Metier des Softwareherstellers lässt kein Improvisieren zu. Es erfordert ein langfristiges Engagement, eine effiziente Unternehmensführung und ein hohes Maß an Fähigkeiten in Bereichen wie dem Erkennen von Perspektiven, Antizipation, Entwicklung, Qualität und Instandhaltung, sowie das organisatorische Umfeld, um auf die Anfragen und Bedürfnisse von Kunden und Partnern eingehen zu können, die eine Lösung benötigen! Eine Lösung ist jedoch kein Quellcode. Eine Lösung ist ein zuverlässiges, unterstütztes, hochwertiges Produkt, das den Nutzern gefällt und zu einem angemessenen, verständlichen Preis angeboten wird.

Es ist interessanter, mit einem Open-Source-Softwarehersteller zu arbeiten, als alles daran zu setzen, ihn zu umgehen. Eine Zusammenarbeit maximiert die Erfolgschancen, ermöglicht den Erhalt einer besseren Lösung, stellt die Kontinuität der Software sicher und bietet Zugang zu Expertenwissen – gleichzeitig aber auch Einsparungen und die Gewissheit, dass eine Open-Source-Philosophie umgesetzt wird, von der alle profitieren.

Unabhängig davon, ob es sich bei den (gemeinnützigen oder gewinnorientierten) Softwareherstellern um ein Unternehmen, einen Verein oder eine Stiftung handelt: sie sind die Garanten der Open-Source-Lösungen.

Ein Quäntchen Hoffnung

Dieser auf staatlicher Seite festgestellte Mangel an Vision oder Willen muss schnellstens behoben werden. Gleichzeitig zeichnet sich aber ein Hoffnungsschimmer ab:

  •  Alles deutet darauf hin, dass diese Frage auf europäischer Ebene vorangetrieben wird und dem „Digitalen Wilden Westen“ mit der Verabschiedung des DMA und des DSA Einhalt geboten werden soll.
  • Es gibt echte europäische Lösungen, die die Grundlagen für glaubwürdige und stichhaltige Alternativen geschaffen haben.

Die Softwarehersteller sind da. Und auch die Lösungen, einschließlich Open Source. Bleibt nur, auf die schönen Worte auch Taten folgen zu lassen und sie auszuwählen.

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Leslie Saladin

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